Das bedeutende Œuvre der französischen Filmemacherin Claire Simon ist hierzulande noch kaum bekannt. Simon, mit ihren Filmen regelmäßig Gast der großen internationalen Filmfestivals – ihre jüngste Arbeit Apprendre (2024) feierte ihre Uraufführung in Cannes –, realisiert seit mehr als vierzig Jahren ein außergewöhnliches Werk, das sowohl Dokumentar- als auch Spielfilme umfasst, und in radikaler Weise Privates und Politisches zusammen denkt. Kein Zufall, dass Annie Ernaux zu ihren Bewunder*innen zählt: In einem Dialog mit der Filmemacherin hat Ernaux die Parallelen zwischen ihrer Literatur und Simons Arbeiten analysiert und die Gemeinsamkeiten in ihrer Wahrnehmung der Welt hervorgehoben – Claire Simons Werk als filmische Autofiktion, gewissermaßen.
Claire Simon, 1955 geboren, ist als Autodidaktin zum Film gekommen. Nach ihrem Studium der Anthropologie in Paris und Aufenthalten in Algerien realisiert sie in den 1980ern erste Kurzfilme und arbeitet zunächst als Editorin. Nachhaltig geprägt wird sie in ihrem Filmverständnis im Rahmen einer Ausbildung in den legendären Pariser Ateliers Varan: Sie verschreibt sich einem Kino, das sich unmittelbar mit dem Alltäglichen und ihrer Biografie verbindet und das von größtmöglicher künstlerischer Autonomie geprägt ist. In vielen ihrer Filme zeichnet sie nicht nur für Regie, Buch und Schnitt verantwortlich, sondern führt oft auch die Kamera selbst. Anfang der 1990er wird sie mit Récréations (1993) international bekannt, einer rauen, dokumentarischen Studie über das fast surreal anmutende Pausen-Geschehen auf dem Schulhof ihrer Tochter.
Das unmittelbare Verhältnis ihres eigenen Lebens (und ihres Kindes) zur Gesellschaft wird zum Fokus ihres Filmschaffens: Dies zeigt sich in ihrer starbesetzten semi-dokumentarischen Erzählung über sexuelle Freiheit und reproduktive Rechte Les bureaux de Dieu (2008) oder in den empathischen Porträts 17-jähriger Schülerinnen eines Gymnasiums in Premières solitudes (2018). In Le concours (2016) blickt sie (selbst)kritisch hinter die Kulissen des Aufnahmeprozederes der Pariser Filmschule La Fémis (deren Regie-Abteilung sie geleitet hat), und auch in Apprendre, dem aktuellen Porträt einer Volksschule, erscheint der Mikrokosmos Schule in durchaus ambivalenter Weise.
“Jedes Leben ist ein Roman”, dieses Credo und ihr feministisches Engagement (Simon ist u.a. Mitglied im filmpolitischen “Collectif 50/50”) korrespondieren konsequent mit einem Filmschaffen, in dessen Zentrum stets Frauen als Hauptfiguren stehen und das den Potenzialen des Realen und Fiktionalen im Kino einfallsreich auf der Spur ist: So führt eine direkte Linie von ihrem bewegenden frühen Porträt Mimi (2002) über das von einem Interview mit dem Lebensgefährten von Marguerite Duras inspirierte Kammerspiel Vous ne désirez que moi (2021) zu ihrem an einer Pariser Frauenklinik gedrehten Meisterwerk Notre Corps (2023), das die Lebensthemen ihres Werks nochmals in einem großen dokumentarischen Epos zusammenführt. (Andrea Pollach, Constantin Wulff)
Claire Simon ist im Filmmuseum zu Gast und spricht zu ihren Filmen (in englischer Sprache). Ihren jüngsten Film Apprendre zeigen wir als Österreich-Premiere.
Ein Programm in Kooperation mit Filmakademie Wien und Institut français d’Autriche