Alain Jessua

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Das französische Genrekino der 1950er bis 1980er Jahre hat noch keine enthusiastische Wiederentdeckung erfahren. Einst Garant für große Publikumserfolge in Kino und im Fernsehen ist es durch das immense Gewicht der Nouvelle Vague zu einer scheinbar schamvollen Erinnerung degradiert worden. Filme seiner zentralen Protagonisten wie Henri Verneuil, Yves Boisset oder Philippe de Broca, inszenatorische Meister und Autorenfilmer zugleich, finden selten Eingang in das Programm von Kinematheken oder in die Filmliteratur.
Das Werk des Regisseurs Alain Jessua (1932–2017) ist zentral für den Diskurs über die erstaunliche Bandbreite und den künstlerischen Wert dieses Teils der französischen Filmgeschichte. Er hat von 1956 bis 1997 ein vergleichsweise schmales Œuvre von neun Langfilmen und einem Kurzfilm geschaffen, welches das im Genrekino häufige Phänomen belegt, dass Filme und Hauptdarsteller*innen bekannter sind als Regisseure: Traitement de choc (mit Alain Delon und Annie Girardot), Les chiens (mit Gérard Depardieu) oder Paradis pour tous (mit Patrick Dewaere) haben einen vertrauteren Klang als der Name Alain Jessua. Die Werkschau hat die Hoffnung, dies langfristig zu ändern.
Alain Jessua überlebte als Kind jüdischer Eltern die Shoah. Die Liebe zum Kino entdeckte der Jugendliche durch heimliche Besuche der Dreharbeiten von Julien Duvivier, die ihm dessen Neffe, ein Schulfreund, ermöglichte. Erstmals im Regiestab arbeitete der 19-jährige Jessua für Jacques Becker bei Casque d’or (1952), später folgten prägende Assistenzen u.a. bei Max Ophüls (Madame de …, 1953, und Lola Montès, 1955) und Marcel Carné (Terrain vague, 1960). Kurz nach dem kometenhaften Durchbruch von Godard, Truffaut und Rohmer debütierte 1964 auch er als Spielfilmregisseur. So sehr La vie à l’envers (1964) den Geist eines neuen Kinos atmet, so wenig assoziierte man ihn mit der Nouvelle Vague – in einem Interview mutmaßte Jessua später, dass er schon wegen seiner filmhandwerklichen Ausbildung nicht von den “Journalisten-Regisseuren” anerkannt wurde. Doch im Sinne der politique des auteurs fand er als alleiniger oder Co-Autor zu einer persönlichen, in manchen Aspekten einzigartigen Handschrift: Im Gewand des populären Kinos sind seine Filme geprägt von großem sozialen Bewusstsein, einer untypischen Melancholie und der Auseinandersetzung mit der Zukunft des Menschen in einer Körper und Seele zunehmend automatisierenden Welt. In der Arbeit mit Schauspieler*innen – in den Hauptrollen besetzte er die Stars des damaligen französischen Kinos – fand Jessua, so sagte er selbst, seine größte Freude. Mit dem Niedergang des “klassischen” Genrekinos endete auch seine Filmkarriere: Sein letzter Kinofilm – mangels verfügbarer Kopien nicht vorführbar – erfuhr 1997 eine kärgliche Kinoauswertung, ab 1999 reüssierte Jessua als Schriftsteller mit sechs veröffentlichten Romanen.
Die wunderschönen 35mm-Kopien dieser Werkschau werden bald nicht mehr zugänglich sein. Umso mehr laden sie ein zur Entdeckung seiner eigenwillig-verschmitzten, in der Figurenzeichnung eindringlichen, in ihrer formalen Qualität virtuosen und frappierend aktuellen Filme. (Gary Vanisian)
Einführungen von Gary Vanisian und Christoph Huber an ausgewählten Terminen
In Kooperation mit dem Filmkollektiv Frankfurt e. V. und Institut français d’Autriche