Die Bibliothek von Alexandria brennt!
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Thomas HARTMANN und Alexander KLUGE | DIE BIBLIOTHEK VON ALEXANDRIA BRENNT!
In seinen Arbeiten aus den letzten Jahren weist sich Thomas HARTMANN als besonders aktiver Bewohner der Gutenberg-Galaxis aus: Bücher, Zeitschriften, Druckwerke aller Art sind zu zentralen Inhalten seiner Bilder geworden. Seine zu Stapeln getürmten, in Fächer gequetschten oder zu Bündeln geschnürten Bücher und Zeitungen scheinen Indices eines sinnlichen Gestaltens zu sein. In seinen Bildern und Skulpturen ist das Buch kein fetischistisches Einzelobjekt, sondern immer Massenware.
Wenn man HARTMANNs kafkaeske, vollgestopfte Bücherwände und Regale sieht, die keiner menschlichen Aufmerksamkeit mehr zu bedürfen scheinen, sondern sich selbst genügen, denkt man an ein Bild, das Michel Foucault entworfen hat: Der Mensch werde verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.
(zit.n.Thomas MIESSGANG)
Von einem jeglichen Wort, das, ungerecht verbrannt, auf seine Ankunft wartet
In der Silvesternacht wanderten die in der Bibliothek von Alexandria anderthalbtausend Jahre zuvor verbrannten Papyri, also Geister, in unbekannter, jedoch überraschender Geschwindigkeit nach Norden und bogen bei Hildesheim ab in Richtung Westen. Die in ihnen festgehaltenen Kenntnisse, ähnlich dem Geld, das Zentralbanken über Nationen abwerfen, um ihren Handelsgeist anzuregen, lagen einige Tage im Nordwesten Europas umher, wurden von niemand einverleibt und verstreuten sich in einer letzten, energischen Bewegung über dem weiten Atlantik. Kein Wasser aber löscht das lange schon Verbrannte. Wie es Zisternen gibt, existierten für solchen seltenen Regen verborgene Auffangbecken. Täuschend war nicht der Bericht über die Wanderung der Papyri, von denen Skeptiker behaupteten, sie sei physikalisch unmöglich, sondern die Annahme, die Papyri seien endgültig verschwunden.
Wanderten diese Wiederauferstandenen bis Europa tief unter der Erde? Oder flogen sie weit im Höhenwind? In den Tagen, die auf Silvester 1799 folgten, gelangte ein Schub unerwarteter Einfälle in die Menschenköpfe (meist war es Musik).
Die “Engraphen” verblaßten rasch. Sie wurden ja auch nirgends mit spirituellem Erdreich aufgehügelt, getränkt, wie es beim Pflanzen einer Gartenanlage sich gehört. Verkümmerten sie? Sprach das für eine “schwache Natur” dieser Fremden? Sind WIEDERAUFERSTANDENE SCHRIFTEN mit Frühgeburten zu vergleichen, die in einer fachlich nicht vorbereiteten Klinik eingeliefert wurden (zum Beispiel ist diese auf Ohrenleiden spezialisiert) und die sich so in der Welt nicht halten konnten? Der fromme Gelehrte Friedrich Schleiermacher, der etwas davon verstand, erklärte die “Seelenhirten” (das sind verbrannte Buchstaben) sogar für BESONDERS ROBUST. So ist nicht ausgeschlossen, daß einiges, was in der Silvesternacht 1799 vom Himmel fiel (anders als Sternschnuppen, die verdampfen), sich bis heute erhalten hat und nur aufgesammelt gehört, daß wir es ernten. Wo?
Man muß aus Teilen der Haut, der Därme, der Leber, des Herzens-Innern (in Kooperation mit ausgewählten Neuronen) inmitten der Korridore des ALTEN GEHIRNS einen NEUEN KOPF bilden und – wie ein Doppeladler – dem tradierten Verstandeskopf gegenüberstellen, daß sie einander zu einem sensiblen Staub zerreiben, wenn es doch nach wie vor um die Suche nach dem verlorenen Buchstaben geht, den Gewächsen aus Alexandria, die auch in Zukunft jeden Brand überleben werden, weil sie immer schon brannten. Etwas hiervon sich einzuverleiben, gehört zum “Autor als Produzenten”, der jedem Menschen eingeboren ist, und insofern nicht vom Brot allein lebt, sondern von einem jeglichen Wort, das, ungerecht verbrannt, auf seine Ankunft wartet.
(Alexander KLUGE, 2025)