Im Libro dell’Arte, dem berühmten Traktat zur Malerei, beschreibt Cennino Cennini um 1400 das Zeichnen in Hell und Dunkel auf farbigen Untergründen als „il principio e la porta del colorire“, den Anfang und die Pforte zur Malerei. Ein Jahrhundert später sollte Leonardo die Technik in seinen grandiosen Naturstudien perfektionieren. Seinem Vorbild folgte Albrecht Dürer mit Blättern wie die „Betenden Hände“, eines der berühmtesten Werke der Zeichenkunst überhaupt. Mit Leonardos und Dürers Arbeiten wurde die Studie in Hell-Dunkel schließlich als eine hoch artifizielle Kunstgattung anerkannt.
War der Chiaroscuro-Zeichnung in Italien ihr fester Platz im Werkprozess zugewiesen, so wurde sie nördlich der Alpen seit dem mittleren 15. Jahrhundert für delikate szenische Darstellungen bevorzugt. Nie handelt es sich dabei um Entwurfszeichnungen, sondern um kostbare Schaustücke. Herausragende Beispiele dafür sind Blätter von Albrecht Altdorfer, Hans Baldung Grien und schließlich Dürers berühmte Grüne Passion. Allein die vielen Sujets aus Geschichte, Mythologie und Volksglauben demonstrieren, dass die Künstler auf die Begehrlichkeiten einer neuen, gebildeten Kundenschicht abzielten.
Die Ausstellung der ALBERTINA legt anhand sorgfältig ausgewählter Werke aus dem eigenen Bestand und höchstkarätigen Leihgaben aus internationalen Sammlungen dar, welche Funktionen die Farbgrundzeichnung im Süden und im Norden hatte, welche Ausdrucksmöglichkeiten die Technik den Künstlern bot und auch, welche Bezüge zur zeitgenössischen Druckgrafik bestehen. Den Besucherinnen und Besuchern wird sie einen besonderen ästhetischen Genuss bieten und dem Laien wie dem Kenner aufschließen, wie Meisterzeichner wie Leonardo und Dürer die Pforte zur Malerei weit aufstoßen und die Schwelle zu einer Kunst um der Kunst Willen überschreiten.