Zeyno Pekünlü: At the edge of all possibles [Am Rande aller Möglichkeiten] 2016
Lecture Performance
In seinem Aufsatz Der Erzähler (1936) stellt Walter Benjamin fest, dass es immer weniger GeschichtenerzählerInnen gibt. Dies führt er darauf zurück, dass in der modernen Welt das Erleben aus ers- ter Hand zunehmend durch Informationen ersetzt wird. 78 Jahre später, nach den schönsten und den schlimmsten Tagen in unse- ren Leben, nach dem großen Widerstand, der viele unserer Ge- fühle in ein neues Licht gerückt hat, stehen wir vor einem giganti- schen Berg aus Analysen, Schriften, Videos und Bildern. Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends lautet die Frage: Wie kann man Widerstand und zivilen Ungehorsam künstlerisch repräsentieren? Nach den Unruhen am Gezi-Park standen wir vor derselben Fra- ge – sie erschien dringlicher als je zuvor. Ich persönlich dachte über einen möglichen Fehler im System nach: ?Gibt es in unserer Zeit der Informationsflut überhaupt noch etwas, das nicht reprä- sentiert wird?? Entspricht dieser Fehler im System gar Benjamins ?epischer Seite der Wahrheit? – der menschlichen Seite, Gefühlen, Affekten? In meiner Lecture Performance möchte ich an den Ur- sprung des Geschichtenerzählens zurückkehren. Der Erzähler er- findet seine Geschichte, um ein kollektives Erlebnis zu bewahren und publik zu machen. Er erzählt eine Geschichte, die alle verste- hen können, ohne die Tatsachen, den Schauplatz oder den Ablauf Konstellation des Ereignisses kennen zu müssen: eine Geschich- te, die über das Dasein der Einzelnen hinausweist, deren Körper und Ich sich im großen Widerstandskörper auflösen. Das einzige Mittel des Erzählens ist das älteste, mit dem wir Erfahrungen aus- tauschen – die menschliche Stimme.
*1980 in Izmir. Lebt und arbeitet in Istanbul.