Als wir wieder hinein gingen schien alles ganz normal, so wie immer.
Ausstellungsdauer: 8. September bis 15. Oktober 2016
Vor 116 Jahren wurde hier, in der Stiegengasse, dem einstigen Wohnhaus Hermann Winkelmanns, eine Wohnung eingerichtet, bürgerlich, in guter, eigentlich bester Lage, sollte doch die Wienzeile, an der das Haus ebenfalls liegt, zu einem boulevardähnlichen Entree ins Zentrum Wiens vom Westen des Kaiserreiches ausgebaut werden, was auch abschnittsweise durchgeführt wurde von Stararchitekten wie Otto Wagner, jedenfalls im unteren Teil der ?Linken-? und – vis-à-vis der Stiegengasse – auch auf der ?Rechten Wienzeile?, in deren Mitte der Wienfluss, kurz: die Wien, von oben herab aus dem Wienerwald hineinfließt in die Stadt. Nach unten hin konnte die oben noch dürre Wien so stark anschwellen, dass sie den seinerseits expansionswütigen Stadtraum bald bedrängte – ?Gumpendorf?, der Stadtteil links von der Wien, wo auch das 1899 vom Architekten Arnold Lotz erbaute Haus mit besagter Wohnung steht, hat seinen Namen von den sumpfartigen Tümpeln, also Gumpen erhalten, die hier zuvor ein für Stadtmenschen unattraktives Feuchtbiotop bildeten. Otto Wagner hat dieses Überschwemmungsgebiet trocken gelegt, indem er den Fluss eindämmen und überbauen ließ und auch gleich eine Stadtbahntrasse neben das neue Flussbett legte, auf der heute die U-Bahn fährt. Vor gut 100 Jahren aber stockten die Arbeiten an den Häusern des Boulevards, denn es war Krieg, und das Kaiserreich verlor diesen Krieg kurz danach und seinen Kaiser auch und schrumpfen musste es überdies noch ganz erheblich. So wohl erklärt es sich, dass die von der Wientalsohle nur geringfügig abgehobene und längs- bzw. stiegengassenseitig in Richtung Wienerwald blickende Wohnung nach dem Auszug ihrer Bewohner/innen inzwischen von der Natur zurückerobert wurde, so weit zumindest, dass aus der bereits in die Zwischenräume der Fenster eingedrungenen Erde bald kleine Bäume hervorsprießen werden, deren Samen der hier beständig blasende Westwind aus dem Wienerwald heranträgt. Dann werden bald auch die im sogenannten Wiesenwienerwald heimischen kleinen Grillen namens Achetae domestici – häusliche Sänger/innen also – dahergeflogen kommen und sich hier zirpend einnisten. ?Wiesenwienerwald? wird das im frühen Mittelalter gerodete nördliche und seither also waldlose Viertel dieses Waldes genannt, welches das schon im 19. Jahrhundert sanierungsbedürftige Finanzministerium dazu inspirierte, gewinnbringend ein weiteres Viertel des Wienerwaldes abzuholzen, welches Vorhaben allerdings der Naturschützer und Politiker Josef Schöffel 1872 gerade noch abzuwenden vermochte. Ein Baumstumpf mit einer darin steckengebliebenen Axt erinnert heute noch an dieses Vorhaben und seinen engagierten Verhinderer. In der einstigen Wohnung haben sich zudem einige Möbelstücke erhalten, die den Weg durch die aufgrund der fensterseitigen Erdansammlungen abgedunkelten Räume zusätzlich erschweren, sind sie doch im Laufe der Zeiten vor oder zwischen die diese Salons verbindenden flügeltürigen Durchgänge gewandert. Immerhin sind jenen Schränken und Kästen dabei genügend breite Ritzen entstanden, um vor ihnen stehend etwas vernehmen zu lassen von dem, was hinter ihnen geschieht. Ob es Leander Schönweger und Jumpei Shimada sind, die dort an einem Tisch sitzen und aus gedrechselten Holzflaschen Honigwein trinken, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, so wie es sich auch nicht mit Gewissheit sagen lässt, was sie miteinander reden. Dann und wann dürften sie sich jedenfalls eines Morseapparates bedienen, um – kurz kurz laaang laaang – ? eine Botschaft nach außen zu senden, die vor allem an die Vergangenheit gerichtet sein dürfte – denn wer empfängt und versteht heute noch Morsezeichen? Vielleicht sitzen da hinten aber auch Andrej Voznesensky und Allan Ginsberg, die sich in einem Moskauer Aufzug einmal die Frage gestellt hatten, in welcher Sprache sie denken. Ginsberg meinte: ?Sometimes French, sometimes Spanish, mostly English?; der russische Dichter aber sagte: ?I think in rhythm?. Ginsberg war entzückt: ?It?s true, some people think ?Un-un-un-un-uhh-ah, Un-un-un-un-uhh-ah?. Like a lot of babies do in cradles, rocking back and forth, singing to themselves – little sing-song things which are rhythmical. Words may change with a stable rhythm, which I think adults use, like on the subway, or riding in a car ??
Inzwischen fahren draußen die Autos hinaus in den Wienerwald und die U-Bahn rattert unter dem Naschmarkt hinein in die Stadt.
Text by Lucas Gehrmann